1 Trio

Es hatte einen glänzenden schwarzen Überzug, ein massives Raupenlaufwerk, ein wirbelndes Schraubenblatt - und es war schnell. Es war offensichtlich eine Maschine, aber kaum eine, die dem Menschen diente.

Veg feuerte mit seinem Blaster auf sie. Die Ladung sollte das Metall bis zum Explodieren erhitzt und einen großen Brocken herausgerissen haben. Aber die polierte Außenhaut sprühte lediglich Funken und glühte für einen Augenblick auf. Das Ding drehte sich mit erschreckender Beweglichkeit und kam wieder auf ihn zu, das tückische Schraubenblatt voran.

Veg machte einen Satz rückwärts, packte das lange Brecheisen und rammte ein Ende in das schwirrende Schraubenblatt. »Probier einen Mundvoll davon!« sagte er und schützte seine Augen vor der erwarteten Zertrümmerung.

Die Eisenstange ruckte in seinen Händen, als das Schraubenblatt damit in Berührung kam. Weitere Funken sprühten. Das Blatt schnitt Portionen davon ab, immer fünf Zentimeter auf einmal: HACK! HACK! HACK! HACK! Aus knapp zwei Metern wurden anderthalb, dann einer, als die Maschine das Metall verzehrte.

Zu diesem Zeitpunkt begriff Veg, daß er einen Kampf um sein Leben führte. Er war beim Austritt aus dem Transfer auf die Maschine gestoßen, als diese die aufgestapelten Vorräte verschlang, und hatte gedacht, daß es sich um ein gepanzertes Tier oder ein ferngesteuertes Gerät handelte. Es war mehr als beides; es strahlte eine alarmierende Aura von Intelligenz aus. Er versuchte es mit dem Gewehr. Die Zündpfanne erhitzte sich, als er sie aktivierte; Dampf füllte die Kammer. Kugeln pfiffen in rascher Folge heraus; das Dampfgewehr war eleganter und wirkungsvoller als die Pulverladungsvariante. Sie prallten von der Maschine ab und kamen als Querschläger von den Felsbrocken an beiden Seiten zurück. Er setzte eine letzte Kugel mitten in die Augenlinse, aber nicht einmal die verursachte erkennbaren Schaden.

Immerhin, das Manöver hatte den Vormarsch der Maschine aufgehalten. Irgend etwas mußte sie verletzen!

Das Gewehr war leergeschossen. Veg packte ein Explosionsgeschoß und rammte es in Feuerposition, als sich die Maschine wieder in Bewegung setzte. Er zielte auf das Laufwerk und drückte ab.

Sand wirbelte hoch und verdeckte für einen Moment das Ziel. Die Maschine wälzte sich, aber einen Augenblick später kletterte sie aus dem Loch, das die Explosion verursacht hatte, und tauchte unbeschädigt wieder auf.

»Bist ein zäher Bursche!« sagte Veg bewundernd. Er war ein Mann, bei dem die Friedlichkeit nicht immer dominierte. Er liebte einen guten Kampf, wenn er ihn rechtfertigen konnte. Er schleuderte das Gewehr nach dem Feind.

Die Waffe flog auseinander, als das wirbelnde Schraubenblatt herumschwang, um sie abzufangen. Ein großes Teilstück sprang seitlich weg. Die Maschine drehte sich, um ihm nachzujagen, hackte das Fragment an Ort und Stelle klein und schaufelte es in einen unten angebrachten Trichter. Wie er jetzt erkannte, hatte sie keine parallel laufenden Ketten, sondern eine einzige breite Reihe von Bolzen, individuell einziehbar wie die Krallen einer Katze. Der Trichter öffnete sich unmittelbar vor diesem Laufwerk/Fuß und schloß sich, wenn fertig, wieder ganz fest - wie ein Mund. Sehr ausgeklügelt...

Veg grinste einen Augenblick lang. Wunderbare Technik, aber das dumme Ding wußte nicht, daß das Gewehr nicht länger gefährlich war! Es hatte die Waffe anstelle des Mannes bekämpft.

Dann sah er es nüchterner. Die Maschine kämpfte nicht gegen das Gewehr, sie verzehrte es! Sie fraß Metall. Er hatte keinen Krieg gegen dieses Ding ausgetragen. Er hatte es gefüttert. Kein Wunder, daß die Maschine angehalten hatte. Solange er bereit war, ihr gutes Metall per Hand zu verabreichen, warum sollte sie sich da selbst bemühen?

Diese Erleuchtung half ihm allerdings nicht viel. Sie deutete darauf hin, daß die Maschine beängstigend schlau war, keinesfalls dumm. Das menschliche Team würde dieses Metall brauchen, um zu überleben. Er konnte nicht gestatten, daß eine gierige Maschine alles verschlang.

Das brachte ihn jedoch auf eine Idee. Wenn Metall sie ernährte, würden Nahrungsmittel sie dann verletzen?

Veg riß einen Packen der Proviantvorräte auf. Es handelte sich um Brotmasse, Gemüse und - er hielt angeekelt inne, als seine Hand darin herumwühlte - Fleisch.

Dann strahlte er. Was konnte man schon Besseres damit anfangen? Er zerrte ein plastikumwickeltes Steak hervor und schleuderte es auf die Maschine, die gerade mit dem Gewehr fertig war, rülpste, und sich wieder dem Mann zuwandte. Das Schraubenblatt hob sich, um das Paket zu fangen. Stücke von Fleisch, Knochen und Plastik flogen in die Luft.

Diesmal beobachtete er die schaufelartige Öffnung, den Trichter, der hinter dem Schraubenblatt in Aktion trat. Die verschiedenen Arbeitsprozesse der Maschine waren gut aufeinander abgestimmt. Der größte Teil des frisch zerschnittenen Fleischs und der Knochen wander- te unmittelbar in diesen Mund, genau wie es mit dem Metall geschehen war. Veg hielt den Atem an, ein weiteres Steak in der Hand. Würde die Maschine plötzlich Verdauungsstörungen bekommen?

Keine Rede davon. Eine Tülle öffnete sich, und eine klare Flüssigkeit tröpfelte auf den Boden: die überflüssigen Fleischsäfte, die offenbar für den Metabolismus des Dings nicht gebraucht wurden. Die Maschine assimilierte das organische Material genauso schnell, wie das anorganische vorher. Und kam, um mehr zu holen.

Würde Flüssigkeit sie kurzschließen? Äußere Flüssigkeit, keine Verdauungssäfte. Veg fand eine Flasche mit Wasser und schleuderte volle vier Liter auf den Schraubenflügel. Die Maschine war durchnäßt. Zuerst schüttelte sie sich, dann begann sie überall zu glühen. Der Todeskampf dieses nicht lebenden Wesens? Nein, sie trocknete sich lediglich mittels einer wirksamen Kombination von Vibration und Hitze. Sie war nicht funktionsuntüchtig geworden.

»Man braucht mehr Verstand, als ich habe, um mit diesem Metallbaby fertig zu werden«, murmelte Veg, als er behende zur Seite tanzte. Dies war kaum die Gelegenheit für Selbstbetrachtungen, aber Veg hatte großen Respekt vor der Intelligenz seines Freundes Cal und wünschte sich, daß er in diesem Moment hier sei.

Cal hätte vermutlich einen Blick auf die herannahende Maschine geworfen und einen auf der Hand liegenden Vorschlag gemacht, und das Ding wäre erledigt gewesen.

Die beiden Männer hatten sich vor Jahren im Weltraum kennengelernt, durch gelangweilte Besatzungsmitglieder miteinander bekannt gemacht, die auf einen Jux aus waren. Veg war Vegetarier, und zwar - nach zu vielen Sticheleien - ein ziemlich militanter. Da er aber auch ein ungemein kräftiger Mann war, hatten sich die spöttischen Bemerkungen schnell gelegt. Kaninchenfutter erzeugte nicht zwangsläufig Kaninchen.

Bis das Wort von einem Mann umlief, der ein purer Karnivore war, nichts als Fleisch aß - Menschenfleisch noch dazu! - und Vegetarier für dumm hielt. Veg hatte nicht offensichtlich reagiert, aber seine Muskeln hatten sich unter dem Hemd gespannt.

Der kleine, schwache Calvin Potter - ungefähr so wenig angriffslustig, wie es nur möglich war. Und doch stimmte es im technischen Sinne: Aufgrund einer wilden Episode in seiner Vergangenheit war es ihm unmöglich geworden, irgendwelche Nahrung mit der Ausnahme von menschlichem Blut zu verzehren. Und er war ein Genie, mit dem verglichen alle anderen Leute, Vegetarier Inbegriffen, dumm waren.

Wenn man Veg der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, so war das wenig im Vergleich zu dem, was Cal erduldete. Veg mochte es nicht, als Subjekt für die Qual eines anderen Mannes zu dienen. Er nahm den unglücklichen kleinen Cal unter seine Knochen zertrümmernden Fittiche, und sehr bald dachte niemand mehr etwas über ihn, das auch nur im entferntesten spaßig war.

Aber es stellte sich heraus, daß Cal der stärkere Mann war, aufgrund seines Intellekts befähigt, es allein und mit bloßen Händen selbst mit einem räuberischen Dinosaurier aufzunehmen - und zu überleben. Er hatte es tatsächlich getan.

Es gab keine Möglichkeit, Cal herbeizurufen. Veg hatte sich als erster auf diese Alternativwelt gebeamt, um die Dinge für seine Begleiter vorzubereiten und mögliche Gefahren auszukundschaften. Aquilon sollte in einer Stunde folgen, Cal eine weitere Stunde danach, zusammen mit den Mantas. Alles sauber und ordentlich.

Lediglich etwa zweihundertundfünfzig Pfund konnten auf einmal durchgeschickt werden, und die Geräte mußten sich nach jeder Benutzung erst abkühlen. Deshalb zogen sich die Dinge in die Länge. Das behaupteten die Agenten jedenfalls. Veg glaubte Taler, dem männlichen Agenten, nicht. Tamme, die Frau, war offenkundig nicht vertrauenswürdiger, aber bei einer Frau spielte das wirklich keine Rolle.

Er zog sich wieder zurück. Ja, er war auf Gefahr gestoßen, und ob! Genauer gesagt, sie war auf ihn gestoßen. Eine belebte Kreissäge mit omnivorischem Appetit. Wenn ihm nicht ziemlich bald etwas einfiel, würde sie ihn und die Vorräte auffressen und sich nach Aquilon auf die Lauer legen...

Das versetzte ihn in Zorn. Der Gedanke, daß die reizende Frau von der Maschine verspeist wurde.

Veg war immer in der Lage gewesen, sich Frauen zu nehmen und wieder zu verlassen, und da er groß, muskulös und gutaussehend war, hatte er sich eine ganze Reihe genommen. Bis Aquilon, das Mädchen, das niemals lächelte, in sein Leben trat. Sie war eine Künstlerin, deren Gemälde fast so wundervoll waren wie sie selbst. Obwohl sie kompetent und unabhängig war, so war sie doch bis ins tiefste Innere ein feiner Mensch. Veg hatte nicht gewußt, was die wahre Liebe war, aber Aquilon zu kennen, bedeutete wirklich sie zu lieben, obwohl sie sich niemals darum bemüht hatte. Jetzt war es ein Teil dieser Liebe, sie ohne bittere Gefühle aufzugeben; das war das Wesentliche, was sie ihn gelehrt hatte, indem sie ganz einfach das war, was sie war. Sie könnte die Veg-Cal-Freundschaft auseinandergerissen haben, aber sie brauchte sie beide ebensosehr, wie sie sie brauchten. So waren sie drei Freunde geworden, enger miteinander verbunden als je zuvor, ohne Konkurrenzdenken oder Eifersucht zwischen ihnen. Endlich war sie in der Lage, zu lächeln...

»Ich werde dich hier wegbringen, und wenn es mich umbringt!« schrie Veg. Er nahm den Nahrungsmittelsack auf die Schulter und fing an zu laufen. »Komm, Hündchen!« rief er und warf eine Packung Rosinen hinter sich. »Das Essen ist angerichtet - du brauchst es dir nur zu holen!«

Die Maschine war dabei gewesen, sich den Stoff des Zeltmaterials einzuverleiben. Sie brachte ihr Schraubenblatt in Stellung, um die Rosinen aufzufangen. Offenbar mochte sie diese lieber (mehr Eisen?), denn sie folgte Veg.

Er führte sie in die Wüste, weg von den Vorräten. Seine Taktik bewährte sich - aber was würde geschehen, wenn ihm die Nahrungsmittel ausgingen?

Aquilon stand ergrimmt vor dem Chaos. Die Vorräte waren verwüstet worden, Fleisch- und Metallstücke lagen im Sand verstreut und Veg war nirgendwo in Sicht. Was war passiert?

Sie wiegte das Ei in den Armen und hielt es warm. Es war ein großes Ei, wie ein kleiner Rugbyball, mehr als zwanzig Zentimeter lang. Es war alles, was von zwei feinen Vögeln geblieben war, die sie gekannt und geliebt hatte. Sie waren gestorben, als sie sie und das Ei beschützt hatten. Es gab keine andere Möglichkeit, die Schuld zurückzuzahlen, als ihr Vertrauen zu rechtfertigen und das Ei so lange zu bewahren, bis es schlüpfte.

Sie verspürte ein plötzliches Bedürfnis zu malen. Sie malte immer, wenn sie aufgeregt war; es beruhigte sie auf wundersame Art und Weise. Sie hatte die phänomenale Pilzlandschaft des Planeten Nacre gemalt, wo sie und die beiden Männer ihr erstes großes Abenteuer gemeinsam erlebt hatten. Sie hatte den barbarischen Omnivoren jener Welt gemalt - und in ihm das bloße Spiegelbild des schlimmsten Omnivoren von allen, des Menschen selbst, gesehen. Sie hatte Dinosaurier gemalt aber wie konnte sie die tobenden Monster malen, die die Seelen menschlicher Wesen waren, sie selbst eingeschlossen?

Sie konnte es versuchen; vielleicht würde es ihr diesmal gelingen. Das Ego des menschlichen Omnivoren sichtbar machen. aber um dies zu tun, würde sie das Ei absetzen müssen.

Dann sah sie die Spuren. Vegs Fußtritte führten weg vom Lager, zum Teil durch etwas verwischt, was er hinter sich hergeschleppt haben mußte. War er zum Auskundschaften weggegangen? Er sollte in der Nähe geblieben sein, um das Lager vor möglichen Gefahren zu schützen, statt in der Landschaft herumzuspazieren. Nicht, daß es viel Landschaft zu sehen gab. Dies war so ungefähr die kärgste Örtlichkeit, die sie zu ertragen bereit war. Sand und Felsbrocken.

Aber was für eine Erklärung gab es für die Zerstörung der Vorräte? Irgend jemand oder irgend etwas war wie ein Vandale über sie hergefallen, und sie wußte, daß Veg dies nicht getan haben würde. Die Schnitte waren eigentümlich, beinahe wie die Male einer wild gewordenen Motorsäge. Seltsam, seltsam.

Sie war jetzt besorgt. Wenn irgend etwas angegriffen hätte, würde Veg gekämpft haben. Das war der Omnivore in ihm, trotz seines Vegetarismus. Die würde das Durcheinander erklären. Wenn er gewonnen hatte, warum war er nicht hier? Wenn er verloren hatte, warum führten seine Fußspuren weg? Veg war stur. Er wäre im Kampf gestorben; er wäre niemals davongelaufen.

Sie hatte einmal gedacht, daß sie Veg liebte. Physisch, sexuell. Sie hatte versucht, ein Vegetarier wie er zu sein. Aber irgendwie hatte es nicht funktioniert. Ihr lag jedoch noch immer sehr viel an ihm, und seine unerklärliche Abwesenheit beunruhigte sie. Sie studierte die Spuren. Konnte er verloren haben - und gefangengenommen worden sein? Wenn ihn jemand mit einer Kanone bedrohte, wäre nicht einmal Veg so töricht gewesen, Widerstand zu leisten.

Aber wo waren die Spuren seines Fängers? Es gab nur die raupenartigen Male des Dings, das er hinter sich her geschleppt hatte.

Nein, sie sah es noch immer nicht richtig. Erstens würde es hier niemanden geben, um Veg mit einer Kanone oder einer anderen Waffe zu bedrohen. Dies war eine unbewohnte, wilde Wüste auf einer unerforschten Alternativwelt. Sie waren die ersten menschlichen Wesen, die ihren Fuß darauf setzten. Zweitens verzweigten sich die Abdrücke an verschiedenen Stellen; manchmal waren sie mehrere Meter von einander getrennt. Wenn Veg irgend etwas geschleift oder geschleppt hätte, wären die Male immer nahe seinen eigenen Abdrücken gewesen.

Sie bückte sich, um die anderen Male sorgfältiger zu untersuchen, und hielt das große Ei dabei mit einem Arm. Sie berührte den plattgedrückten Sand mit einem Finger. Hier hatte ein erhebliches Gewicht gewirkt - eine Tonne oder mehr, wenn man die Breite der Spur und den Eindruck im Sand berücksichtigte. Wie Reifenspuren, nur breiter; und es gab nur eine Bahn anstelle von zwei parallel verlaufenden Bahnen. Was für eine Art Fahrzeug hatte das bewirkt? Kein menschliches Erzeugnis...

Das Naheliegende war, den Spuren zu folgen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber sie sollte den Lagerplatz nicht verlassen, bevor Cal und die Mantas durch die Öffnung gekommen waren, und sie wollte nicht in die Klauen - Raupenglieder? - des Dings fallen, das Veg gefolgt war. Mit Ausnahme der Felsbrocken gab es hier keine echte Deckung. Sobald sie nahe genug heran war, um es zu sehen, würde es sie sehen. Und wenn es Veg veranlaßt hatte, sich davonzumachen, dann hatte sie schon gar keine Möglichkeit, es zu bekämpfen. Veg war physisch ein außergewöhnlich fähiger Mann.

Sie würde also hierbleiben, scharf aufpassen und das Durcheinander aufräumen müssen. Wenn sie Glück hatte, würde nichts passieren, bis Cal eintraf. Wenn sie noch mehr Glück hatte, würde Veg unbeschadet zurückkehren.

Sie drehte sich um und ließ das helle Sonnenlicht auf das Ei fallen, um es zu wärmen. In dem Ei befand sich Ornet, der Embryo eines Vogels, der eine Art Rassenerinnerung besaß: vielleicht ein besseres Überlebensinstrument als die Intelligenz des Menschen. Wenn nur der richtige Wohnplatz gefunden werden könnte. Und wenn auch ein Partner für den Vogel gefunden werden könnte. Vielleicht könnte man einen von Paleo holen, der ersten Alternativerde, und das Paar würde hier in irgendeiner Wüstenoase eine Dynastie begründen und sie könnte das Gedeihen des Gemeinwesens beobachten.

Wüstenoase. dies war die Erde oder vielmehr eine Alternative davon. Die Landschaft entsprach irgendei- ner Örtlichkeit und irgendeinem Zeitabschnitt der Welt, die sie kannte. Wo - auf der Erde - war das hier? Cal war der einzige, der es herausbekommen konnte.

Der Schatten eines menschlichen Wesens fiel auf den Sand vor ihr und riß sie aus ihrer Träumerei. Aquilion erstarrte, bevor sie hochblickte. Es war zu früh für Cals Erscheinen, und Veg hätte nicht unbemerkt an sie herankommen können. Wer... denn? Sie sah hin - und gab einen erstickten Laut der Verblüffung von sich.

Ein wunderschönes blondes Mädchen stand vor ihr, geformt wie eine Sirene unter ihrem fließenden Haar. Sirene in mehr als nur einer Beziehung: Sie war nackt.

Die blauen Augen der Erscheinung musterten die Szenerie kühl. Aquilon, in praktischer Jeanskleidung, fühlte sich irritiert.

»Wer sind Sie?« wollte sie wissen.

»Sinnlos, das jetzt alles zu erklären«, sagte die Nymphe. »Gib mir bitte das Ei.«

Aquilon trat unwillkürlich zurück. »Nein!«

»Du mußt. Du kannst es nicht länger bewahren. Nicht hier in der Wüste mit den furchtbaren Maschinen. Ich habe einen neuen Garten Eden gefunden, ein Paradies für Vögel. Wenn es dort schlüpft.«

»Niemand außer mir kann.« Aquilon unterbrach sich, als ihr klar wurde, wovor ihr Bewußtsein schon vorher zurückgeschreckt war. »Du bist ich!«

»Und du bist ich, ziemlich genau getroffen«, sagte die Blondine. »Du kannst mir also vertrauen. Du.«

»Aber du bist. du hast mehr.«

Die Augen der Frau senkten sich für einen Augenblick auf ihren eigenen Busen, Aquilons Blick folgend. »Ich trug ein Kind, darum. Ich verlor meins, du wirst deins behalten. Aber du kannst das Ei nicht behalten.«

Aquilon wich zurück. »Ein Baby? Ich.«

»Du bist in Gefahr. Du kannst dich selbst retten, nicht aber das Ei. Es ist wenig Zeit, und es ist zu kompliziert, es jetzt hier zu erklären. Gib es mir.« Sie streckte die Hand aus.

»Nein!«

Aquilon wich wieder zurück, das Ei an sich gepreßt. Ihr Verstand drehte sich aufgrund dieser unerklärlichen Entwicklung der Dinge. Wie hatte sich ihr dralles Double hier manifestiert? Konnte sie ihr trauen - oder war es eine verrückte Art von Falle? Zu wissen, daß das Ei wirklich sicher war.

»Gib es mir!« schrie die Blondine und stürzte sich auf sie.

Aquilon stieß sie weg, aber die Wucht des Angriffs der Frau trieb sie zurück. Ihre Fersen verfingen sich an einem Sack mit Vorräten, und sie taumelte rückwärts, die Blondine auf ihr. Sie schrien alle beide.

Das Ei, zwischen ihnen gefangen, war zerbrochen.

Der große Embryo darin, zu früh freigesetzt, plumpste blind zu Boden und starb.

Cal blickte sich um. Die Vorräte waren verwüstet worden. Veg war verschwunden, und Aquilon lag in der Nähe eines Sandhaufens auf der Erde. Er eilte zu ihr.

Sie war nicht tot. Sie schluchzte. Sie hob ein sandbeschmiertes Gesicht zu ihm empor, als er ihr seine Hand auf die Schulter legte. In einer Hand hielt sie ein Bruchstück einer zerbrochenen Eierschale.

Cal begriff, daß das kostbare Ei zerschmettert worden war. Sie mußte, während sie es hielt, gefallen sein und die Überreste dann begraben haben. Daher die Tränen, der Hügel aus Sand.

Er fühlte tiefes Bedauern. Das Ei hatte ihr viel bedeutet, und deshalb auch für ihn. Er hatte gehofft, daß es bis zum Schlüpfen bewahrt werden konnte, so unbe- quem die Sache auch war.

Aber noch wichtiger jetzt: Wie hatte sich dieser Verlust auf Aquilon ausgewirkt? Und wo war Veg? Hatte Veg irgend etwas mit der Zerstörung des Eis zu tun gehabt? Nein, unmöglich!

Er ließ sie in Frieden. Sie mußte sich auf ihre eigene Weise erholen. Es gab keinen wirklichen Trost, den er spenden konnte - das Ei war unwiderruflich verloren. Er analysierte:

Veg war irgendwohin in die Wüste gegangen und nicht zurückgekehrt. Aquilon hatte anscheinend mit jemandem gekämpft - mit einer barfüßigen Person, weiblich möglicherweise, denn die Abdrücke waren klein. Diese Spuren schwankten ein kurzes Stück über den Sand und verschwanden dann. Und irgendeine Art von Fahrzeug war gekommen und gegangen und hatte auf dem Weg die Vorräte beschädigt.

Hatten die Agenten noch andere Teams geschickt? Andere Leute mit maschineller Ausrüstung - und nackten Füßen? Zu welchem Zweck? Wenn es zwei oder mehr Teams gab, sollten sie über die Gegenwart der anderen informiert worden sein, so daß sie sich treffen konnten. Sicherlich sollten sie sich nicht gegenseitig überfallen. Und Taler, der Anführer der Agenten, hatte keinen Grund gehabt, in dieser Beziehung zu lügen.

Immerhin, die umgemodelten menschlichen Androiden, die die Agenten verkörperten, waren klug, stark und rücksichtslos bei der Durchführung der ihnen übertragenen Missionen. Cal brachte ihnen nüchternen Respekt entgegen, auch wenn er in Opposition zu ihnen stehen mußte. Ein Agent der SU-Serie, Subble, war beauftragt worden, die Wahrheit über das Nacre- Abenteuer festzustellen. Er hatte es getan. Drei aus der TA-Serie waren ausgesandt worden, um die Alternativerde Paleo für die menschliche Zivilisation zu sichern.

Trotz Cals Bemühungen hatten sie einen verheerend direkten Angriff unternommen, um dies zu erreichen. Als Folge davon waren die Enklave der Dinosaurier ausgelöscht, der Orn-Vogel getötet und das Trio »normaler« Leute gefangengenommen worden. Als ob ein Mädchen wie Aquilon jemals als typisch betrachtet werden konnte, geschweige denn ein Mann wie Veg!

»Hex! Circe!« schnappte er und wandte sich den Kreaturen zu, die bewegungslos in der Nähe der Öffnung saßen, die funkelnden Augen fest auf ihn gerichtet. »Findet Veg. Vorsichtig - Gefahr.«

Die beiden Mantas sprangen in die Luft und nahmen während der Bewegung ihre flache Geschwindigskeits- form an. Sie segelten über die Wüste wie zwei tieffliegende Drachen, schnell und lautlos.

Aquilon erhob sich. »Cal!« rief sie verzweifelt.

Er ging zu ihr hinüber und wünschte sich mit einem Teil seines Verstands, daß sie zu jener Sorte gehörte, die einem Mann in die Arme sank, wenn sie Trost brauchte. Aber sie gehörte nicht dazu; sehr selten brach sie zusammen. Sie war ein zähes, realistisches Mädchen. Solange sie lebte, würde sie voll einsatzbereit sein. Das war vermutlich der Grund, aus dem er sie liebte. Ihre Schönheit war zweitrangig.

»Was ist passiert?« fragte er sanft.

»Eine Frau kam und zerbrach das Ei«, sagte sie. »Und sie war ich.«

»Du?« Diese nackten, weiblichen Fußabdrücke.

»Ich. Mein Double. Nur noch ein bißchen mehr. Ich schlug sie.«

Irgend etwas klickte in seinem Verstand. »Das alternierende System!« rief er aus. »Ich hätte es wissen sollen!«

»Was?« Sie war so hübsch, wenn sie überrascht war.

»Wir haben es jetzt mit Wechselwirkungen zu tun. Es muß eine unendliche Zahl von Alternativerden geben. Wenn wir einmal anfangen, diese Grenzen zu überschreiten, laufen wir Gefahr, uns selbst zu begegnen. Wie es dir passiert ist.«

»Oh!« sagte sie begreifend. »Dann war sie tatsächlich ich. Nur daß sie ein Kind gehabt hatte. Aber warum war sie hier - und wo ist sie hingegangen?«

»Wir können es noch nicht wissen. Hat sie irgend etwas gesagt?«

»Nur, daß ich überleben könnte, nicht aber das Ei. Sie wollte es in irgendein Eden mitnehmen.«

»Sie muß deine Zukunft gekannt haben. Vielleicht stammte sie aus einem etwas weiter fortgeschrittenen System. In einem Jahr könnte sie ihr Kind gehabt und ihr Ei verloren haben, so daß sie aus Erfahrung wußte.«

»Nein - es war ihr Kind, das sie verloren hat.« Aquilon schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie sagte, ich würde meins behalten. Aber ich bin nicht schwanger.«

»Es gibt andere Alternativwelten«, machte er klar. »Eine zahllose Zahl von Aquilons werden Kinder gehabt haben, und zahllose andere werden welche bekommen. Sie könnte dich verwechselt haben. Sie hat es gut gemeint.«

»Und ich habe gegen sie gekämpft«, sagte Aquilon. »Das hätte ich nicht tun sollen.«

»Wie konntest du es wissen? Und du warst im Recht, dein Ei zu behalten, egal was sie wußte. Du hast schon früher für es gekämpft, um es vor Dinosauriern zu schützen.«

»Aber jetzt hat es keiner von uns.« Sie weinte, als sie ging.

»Sie wollte das Ei retten - und hat es statt dessen zerstört«, sagte Cal. »Sie fühlte sich so, wie du dich fühlen würdest.«

Aquilon blickte ihn an, ihr tränenüberströmtes Gesicht noch immer voller Sand - und reizend. »Dann ist sie verzweifelt. Ich hätte es ihr geben sollen.«

»Nein. Jede Welt muß für sich selbst sorgen. Wir haben gegen die Erde gekämpft, um sie daran zu hindern, Paleo zu plündern. Wir müssen gleichfalls kämpfen, um andere Alternativwelten daran zu hindern, uns zu plündern. Aber wir müssen begreifen, daß sie uns sehr ähnlich sind...«

»Omnivoren!« sagte sie bitter.

»Aber es gibt auch einen positiven Aspekt. Orns Ei ist in dieser Alternativwelt verlorengegangen, aber es muß viele Welten geben, wo es gerettet wurde. In einigen hast du es behalten, in anderen hat es die andere Aquilon an sich genommen. Und das Küken ist nicht tot - dort.«

»Ornet«, sagte sie. »Nachkomme von Orn und Ornet- te...«

Er lächelte. Sie war dabei, es zu überwinden. »Oder unter irgendeinem anderen Namen. Jetzt müssen wir herausfinden, was mit Veg passiert ist.«

Ihre Blicke folgten den Spuren im Sand. »Glaubst du, daß er.«

»Ich habe die Mantas hinter ihm hergeschickt. Irgendwie wissen sie Bescheid. Sie hätten sich nicht auf den Weg gemacht, wenn er tot wäre.«

»Ja, natürlich«, murmelte sie.

Sie räumten die Vorräte etwas zusammen und machten Packen für jeden, für alle Fälle. Ein Blaster und Gewehr fehlten - und auch eins der langen Stemmeisen, was darauf hindeutete, daß Veg sie mitgenommen hatte.

»Aber wir wissen bereits, daß wir einer fremdartigen Situation gegenüberstehen«, warnte Cal sie. »Herkömmliche Waffen könnten nutzlos sein.«

»Maschine!« sagte sie plötzlich.

Cal blickte fragend hoch. »Wir haben hier keine Maschinen.«

»Mein Double.« Sie sagte irgend etwas über Maschinen hier in der Wüste. »»Furchtbare Maschinen<. Eine Gefahr.«

Cal betrachtete abermals die Raupenspuren. »Eine Maschine«, murmelte er nachdenklich. »Eine Maschine, die Veg folgt.«

»Komm, beeilen wir uns«, rief sie. »Und laß uns Waffen mitnehmen!«

Wachsam brachen sie auf, Vegs Spuren und denen des mysteriösen Fahrzeugs folgend. Cal fühlte sich unbehaglich. Wenn menschliche Wesen aus einer anderen Alternativwelt auftauchen konnten, dann konnten es auch schwere Gerätschaften. Angenommen, eine Art Tank war losgeschickt worden, um Besucher dieser Welt zur Strecke zu bringen? Sie könnten geradewegs in einen Krieg zwischen alternativen Welten spaziert sein. Aquilon blieb abrupt stehen und rieb sich die Augen. »Cal!« flüsterte sie.

Cal blickte auf. Zuerst sah er nichts; dann wurde er sich eines Funkeins in der Luft vor ihnen bewußt. Schwache Lichter blinkten, an und aus, fortwährend ihre geheimnisvollen Muster wechselnd.

»Ein Schwarm von Leuchtkäfern?« fragte Aquilon. »Laß mich es malen.«

Sie war niemals ohne Pinsel und Block, und jetzt, da es kein Ei mehr zu halten gab, konnte sie wieder malen.

Sie zögerte. Er wußte, warum: Ihre plötzliche Freiheit veranlaßte sie, sich schuldig zu fühlen. Wieviel besser wäre es gewesen, ihrem Double das Ei gegeben zu haben! Die Frau würde sich in jeder Beziehung genauso um das Ei gekümmert haben wie Aquilon selbst, denn sie war Aquilon - um bittere Erfahrungen reicher. So mußte es dieser Aquilon im diesem Augenblick jedenfalls erscheinen. Er mußte sie auf andere Gedanken bringen.

»Leuchtkäfer, ohne Pflanzen, um die Insekten zu ernähren?« fragte Cal, wohl wissend, daß er einen .trügerischen Punkt angesprochen hatte. »Wir haben hier noch kein einheimisches Leben gesehen.«

»Es muß Leben geben«, erwiderte sie, während sie zügig skizzierte. »Andernfalls würde es keine atembare Atmosphäre geben. Pflanzen geben Sauerstoff ab.«

»Ja, natürlich.«, stimmte er zu und beobachtete den Schwarm. »Trotzdem haben wir es hier mit etwas Eigenartigem zu tun.«

Das Funkenmuster wurde intensiver. Jetzt ähnelte es einer kleinen Galaxis blitzender Sterne, wobei sich die einzelnen Lichter so schnell veränderten, daß sich das Auge nicht an ihnen festhalten konnte. Aber Aquilons geschultes Wahrnehmungsvermögen fing das Künstlerische des Funkenmusters ein. Farbe floß aus ihrem automatischen Pinsel und brachte das Bild zum Strahlen. Dies war die wunderbare, kreative Person, die er gekannt hatte. Sie drückte sich selbst durch ihre Kunst aus.

Die Blitze waren nicht zufällig. Sie bewegten sich in gekräuselten Wellen, wie die Markise eines alten Kinos. Diese Wellen wanden und dehnten sich wie lebende Wesen. Aber nicht wie Reihen von Leuchtkäfern.

»Wunderschön«, hauchte Aquilon. Ja, jetzt wurde sie durch ihre eigene Schönheit illuminiert. Sie war das, was sie wahrnahm.

Plötzlich bewegte sich der Schwarm auf sie zu. Die Lichter wurden hell und scharf. Die Konturen dehnten sich gewaltig aus.

»Faszinierend«, sagte Cal, der in der Wolke dreidimensionale Muster erkannte, geometrische Verhältnisse, die sich in blendenden Anordnungen immer wieder neu aufbauten. Dies war keine zufällige Folge von Blinksignalen.

Aquilon griff nach seinem Arm. »Es sieht uns!« rief sie plötzlich alarmiert. »Lauf!«

Es war bereits zu spät. Der leuchtende Schwarm war über ihnen.